Ein kleiner deutschsprachiger Pressespiegel vom 04.04.2012:
"In dem Gedicht Was gesagt werden muss greift Literaturnobelpreisträger Günter Grass Israel scharf an." (STERN)
"Eine Erläuterung: Was Grass uns sagen will." (FAZ)
"Grass-Gedicht schlägt hohe Wellen auf Twitter" (DIE WELT)
"Günter Grass. Der Antisemitismus will raus." (DIE ZEIT)
"Das neue Gedicht des deutschen Literaturnobelpreisträgers erregt die Gemüter." (NZZ)
"Lyrischer Erstschlag geführt: Grass schlägt hohe Wellen." (n-tv.de NACHRICHTEN)
... und so weiter und so fort.
Weil ohnehin alle was dazu schreiben, werde ich hier fast ausschließlich eine verkürzte Einschätzung abgeben. Und zwar eine, die sich eher auf den poetischen Aspekt konzentriert.
Nur wenig also von meiner Seite inhaltlich dazu. Inhaltlich bewegt sich Grass mit einer derart scharf formulierten Israel-Kritik als deutscher Schriftsteller von Weltrang auf bekanntermaßen vermienten Terrain. Nur so viel, als logische Denkschule für mainstream-trotzende Hobby-Echauffeure: Nicht Israel äußert seit Jahrzehnten, den Iran vernichten zu wollen, sondern es ist anders herum. Dies kann die Brutalität der Israelis gegenüber den Palästinensern nicht aufwiegen - aber sollte man es denn überhaupt derart "aufwiegend" denken, oder ist das nicht schon wieder die typisch-emotionale Aufreger-Falle? Also: Nein. Ich finde es kurz unsäglich überflüssig, sich inhaltlich auf einer solchen geistigen Discount-Ebene überhaupt mit diesem Grass-Gedicht auseinander zu setzen. Weil das Gedicht als Instrument zur Vermittlung von Inhalten gedacht ist, tappt man leider leicht und schnell in diese Falle. Stattdessen der Versuch einer Mikrorezension, die sich aufs Literarische konzentriert. Und zwar ohne Umschweife gleich auf die größten Schwachpunkte in dieser Hinsicht.
Hier das Gedicht im Wortlaut auf den Seiten der Tagesschau:
Die Abschlussstrophe des Gedichts ist auch gleichzeitig der poetisch schwächsteTeil. Wobei das gesamte Gedicht literarisch ein Rohrkrepierer ist, der als politischer Essay sicher noch halbwegs Sinn machen hätte können. Zumindest literarisch. Aber als Gedicht geht es so nicht. Es wirkt bräsig, unintellektuell, obwohl es Intellektualität und Wendigkeit mimt. Die Sprache ist der Tageszeitung entnommen und unangenehm gepaart mit einem hymnischen Tonfall, der es wohl doch noch irgendwie als Gedicht retten soll.
"(...)
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen."
Auch hier halte ich mich gar nicht lange beim Zitierten auf. Ich denke selber sogar, dass seit wenigen Jahren die Zeit für politische Poesie weltweit so reif wie lange nicht ist! Aber man lese diese zitierten Zeilen in Ruhe durch; man spreche sie probehalber einmal laut!
Nun; grauenhaft! - Dieses Gedicht ist literarisch schmerzhaft unausgegoren und schlicht sprachlich unüberarbeiteter Schrott! Natürlich, man kann dies auch als Stilmittel ansehen. Der Dichter bei einer moralischen Notdurft, das Gesicht ist schmerzverzerrt. Ich hoffe für Grass, dass es so gemeint ist. ...
Mich erinnern diese Zeilen in ihrer Schmerzhaftigkeit und tonfälligen Mühsamkeit im Abarbeiten des Sagen-Müssens aber eher an die geschraubten späten DDR-Gedichte eines J.R. Becher, - seine "Stalin-Oden" -, oder an die verkrampften Versuche von B. Brecht, die russische Diktatur zu verteidigen (da, wo Brecht z.B. etwas verschwurbelt einmal gemeint hat, dass "jene Diktaturen unterstützt und ertragen werden müssen, die ihre eigenen Wurzeln ausreißen").
Nein. Egal, was Günter Grass bereits von Weltrang geschrieben hat: Dieses Gedicht gehört nicht dazu. Auch wenn jetzt alle so ausgiebig darüber schreiben und intensiv darüber nachdenken ... . Tintenfische tauchen nicht immer tief, aber manchmal taugt ihre Tinte dem Bluff oder der geistig-literarischen Hochstapelei.
Mit einem wirklich guten Titelzeilen-Zitat ausgerechnet aus der Financial Times Deutschland beende ich deshalb diesen Exkurs über den feuilletonistischen Zustand der Nachkriegsliteratur in den Köpfen ihrer einstigen Leistungsträger, in dem sich meine Enttäuschung über Grass mit dem Ärger über den Zustand der politischen Lyrik in Deutschland insgesamt mischt. Der (im Artikel unnötigerweise ungenannte) sehr feinsinnige Rezensent der FTD erkennt in dem "peinlich-pathetischen und vor allem eitlen Gedicht" vor allem dies hier schlagzeilenartig:
"Grass vertrommelt sich" (Graumann-Zitat in der FTD als Titelzeile)
PS: EDIT vom 07.04.2012. Drei lange Tage der Kakofonie in deutschen Medien hat es nun gedauert. Der Dreck flog allerorten und überall hin. Grass durfte seine popelitische Poesie sogar im Fernsehen vorlesen (Guckt mal, ich bin wieder in Fernsehen - wobei, das könnte man von Thomas Gottschalk auch sagen!):
Dennoch. Jetzt haben es nach mehren Tagen und vielen Kommentaren auch andere bemerkt. Das Gedicht ist Schrott. Endlich ist es "erlaubt", es auszusprechen. Einen ähnlich scharfen Kommentar auf WELT Onnline von mir haben sie drei mal in verschiedenen Varianten raus gelöscht. Andere Tintenfische dürfen es nun aber doch einmal so deutlich sagen, - wenn auch nur solche Tintenfische mit vornehmen Namen wie Ranicki, Biermann, etc. ...
O-Ton Marcel Reich-Ranicki laut SPIEGEL: Das Günter Grass Gedicht sei "politisch und literarisch wertlos".
"Eine Dichtung ist das nicht. Es ist eine
beleidigende Aufschneiderei, dass Günter Grass seine stümperhafte Prosa
am Ende auch noch zerstückelt hat, dass er uns seine Satzfetzen
untereinander setzte und der Menschheit nun verkauft als freie Rhythmen,
als reimlose Lyrik. Das ist eine literarische Todsünde. Von Romanen verstehe ich
wenig, zu wenig. Aber was ein Gedicht ist, das merke ich auch dann, wenn
es in einer Manier geschrieben ist, die mir fremd ist oder mich sogar
ärgert! Der Wutanfall von Grass aber ist kein Gedicht, sondern ein
Gedacht, egal ob er falsch oder richtig, egal ob er tief oder flach
gedacht hat."
Na, wie dem auch sei. Anders sehe ich es auch nicht. Hier einer der wenigen Kommentare von mir dazu, den die rechtskonservative WELT Online nicht gelöscht hat, er ist vom 05.04.2012 und frisst Kreide, damit er nicht wieder gelöscht wird:
"Was mich wundert, ist, dass praktisch alle sich auf die sicherlich verschwurbelten und fehlerhaften Gedankengänge von Grass konzentrieren. Ich habe das Gedicht gestern morgen in der Süddeutschen Zeitung gelesen und war erst einmal davon abgestoßen, weil es mich literarisch so enttäuscht hat! Grundsatz für einen Poeten - und ich bin selber einer - muss doch sein, dass man sich vorher fragt, welche literarische Form angemessen sei. Für seine Inhalte wäre zweifelsohne ein politischer Essay sinnvoller gewesen. Als Gedicht und derart sprachlich unbearbeitet und holprig muss dieser Text (zumindest poetisch) versagen. Dass er es auch inhaltlich tut, fiel mir tatsächlich erst beim zweiten Lesen auf!"