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Poetik 2020 / Poetik der Gegenwart und absehbaren Zukunft

Manche Themen arbeiten lange im Hintergrund, bevor man sie langsam ans Tageslicht gewöhnen kann. Was mich derzeit - und dennoch bereits seit den 1990er Jahren - umtreibt, ist die Frage, wie überhaupt Poesie der Gegenwart und absehbaren Zukunft aussehen sollte. Woran würde man sie erkennen? Die Postmoderne ist, egal ob von den 1960ern an gerechnet, oder erst von den 1980ern an, in die Jahre gekommen. Und damit sicher auch einige ihrer Methoden. Gleichzeitig spielt die Politik für die Gesellschaft - und daher auch für die Kunst  - seit ca. 4 Jahren wieder eine größere Rolle.
Aber genügt es wirklich, die politische Literatur wieder zu beleben oder neu für sich zu entdecken? Muss man nicht auch Verkrustungen in den Methoden und innerhalb der Perspektiven der Postmoderne vermuten, die es längst ihrerseits aufzubrechen gilt?

Da das Thema sehr umfassende Ansprüche mit sich bringt, werde ich in einer Art und Weise damit umgehen, die ihm selbst entspringt. Wobei also der Umgang mit der Frage Teil einer Antwort sein soll, während immer neu versucht wird, sie zu stellen, kurz: ich schreibe Lyrik in meinem Sinn. Und ich erstelle nach und nach eine Liste mit numerierten Aspekten, die für mich in einer Poetik der Gegenwart und Zukunft eine Rolle spielen sollen.
  1. Ambitionierte Amateurhaftigkeit und anspruchsvoller Dilettantismus sind meines Erachtens Methoden der Gegenwart und Zukunft. (Dies sage ich nicht zuletzt aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen als Amateur-Rosenzüchter, wobei mir diese Grundhaltung lange schon sympathisch ist, ohne dass ich jedoch mutig genug gewesen wäre, mich vollends darauf zu berufen.) In der Renaissance spielten Dilettanten eine wichtige, progressive Rolle. Mehr dazu im Vorwort auf Seite 7 einer Veröffentlichung von Elisabeth Strauß aus dem Jahr 1995: "Dilettantismus und Wissenschaft" (Zitat s.u., Fußnote #). Ich möchte mich hier ihren Gedanken im Grundsatz auch anschließen. Ein wichtiger Haken dieser Sache soll aber nicht verschwiegen werden. Er kam mir neulich beim Betrachten sogenannter "statistischer" Aussagen Thilo Sarrazins zur Immigration: Dilettantismus kann nämlich, ideologisch verzerrt zur Demagogie, auch den Rand hin zu Verschwörungstheorien und Fremdenfeindlichkeit streifen oder überschreiten. Die "Methode Sarrazin" bedient sich des Aromas der Wissenschaftlichkeit und Überprüfbarkeit. Das muss nicht immer schlecht sein, vor allem wenn man Ironie im Sinn hat. Überraschend und unideologisch verwandt kann man diese Methode z.B. hier wieder finden, in bewusst pseudowissenschaftlichen Tortengrafiken als Form gewitzter, harmloser Unterhaltung. In einer solchen Form ist das Verwenden wissenschaftlicher Methoden-Splitter ironisch und dekonstruktiv. Sarrazins Anspruch ist - zumindest an der Oberfläche - ein amateurhaft-investigativer und (populär-)wissenschaftlicher. Er, selber ein wissenschaftlicher Analphabet, (was nichts anderes als "Amateur" in negativer Sprechweise bedeutet) quält die Wissenschaftlichkeit, indem er ihren Ruf in den Dienst oft eher intuitiv erfundener Thesen stellt. Ihm ist Ironie auf Basis von Selbstironie daher eher fremd. Insgesamt kommt es hier also ganz alleine und entscheidend auf die Motivation hinter den angewandten Methoden an. Und, ist man sich unsicher, eben auf ständige Selbstüberprüfung im Schaffensprozess. Inwieweit man sich davon aber bereits wieder gefangen nehmen lässt, in einem Kaleidoskop der Selbstbespiegelung als Kennzeichen postmoderner Dekonstruktion - das soll hier vorerst offen bleiben. Grundsätzlich will  ich aber dennoch für mehr Mut zum "Wissen" plädieren, denn allzu oft lähmt der im Wahrnehmungs-Skeptizismus versteckte, hohe Anspruch den postmodern denkenden Menschen nur. Man kann das unkritisch nennen, überheblich. Nur: Abgesehen von Konstruktivismus, Dekonstruktion und Infragestellung fremder wie eigener Konzepte ist es manchmal besser, oder zumindest lebensnaher, überhaupt etwas zu erfassen, als vorab vor dem (versteckten!) Anspruch ewig unerreichbarer Vollständigkeit zu kapitulieren. Mein eigener Anspruch zwischen reinem Witz und einem Anspruch echten Forschens am Leben geht an dieser Stelle einen dritten Weg. Ich erschrecke, wenn ich den Verlauf narzisstisch geprägter Diskurse, wie den Thilo Sarrazins wahrnehme. Gleichzeitig halte ich Poesie in mehrfacher Hinsicht für ein Mittel der Grundlagenforschung. Ein Gedicht kann keine Atome spalten. Aber es kann den Atombegriff spalten. Und weniger dekonstruktiv ausgedrückt: Es kann - mit oder ohne Witz - helfen, den Atombegriff mit zu verändern. 
Weitere Aspekte einer in meinen Augen modernen Poetik der Gegenwart und absehbaren Zukunft werde ich nach und nach ergänzen.

Gruß,
Arno Schlick
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# 'Wenn die Wissenschaften heute nicht nur Expertenwissen, sondern paradoxerweise "Systeme des Nichtwissens" produzieren, um sich gegen den Einfluss und die Kritik der Alltagswelt abzuschirmen, ist es an der Zeit darauf hinzuweisen, dass ihre Wurzeln in der vielfältigen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und interessierten Laien liegen. Am Beginn eines sich neu artikulierenden Wissenschaftsinteresses in der Renaissance und frühen Neuzeit fungierten Dilettanten als Anreger und Mitarbeiter in Forschungsprojekten, als Vermittler und Popularisierer von Theorien und Ergebnissen, als Mäzene für Laboratorien und Publikationen. (...) Erst mit der Teilung der Wissenschaft in die einzelnen Disziplinen und ihrer zunehmenden Institutionalisierung wurde der Amateurstatus dann als Argument verwandt, um Kritik und Ideen, die nicht in den "mainstream" der Forschung passten, zu disqualifizieren. Mit diesem Ausschluss verzichtete die Wissenschaft jedoch auf ein großes Potential an Originalität und Kreativität, ein Potential, das heute freilich nicht nur für ihre Weiterentwicklung, sondern auch in der Ethik der Wissenschaften als Korrektiv dringend benötigt würde.'

Link zu Teil 2. Keine Angst vor der Möglichkeit der Gültigkeit von Aussagen!

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